So abstrus Idee und Szenerie zu sein scheinen, so wunderbar ist deren Entwicklung. Und wenn jeder dieser zwanzig Menschen auch zunächst scheinbar davonlaufen möchte, ändert sich die Atmosphäre in Sekundenbruchteilen, und die Magie des Augenblickes webt ihren Zauber in jenem Moment, als sie sich nähern und sich ihre Lippen zum ersten Mal berühren. Der Zuschauer kann sich der Betrachtung ebenfalls nicht entziehen.

Auch dann nicht, wenn ihm klar wird, dass die Intention dieses Films darin liegt, eine Werbekampagne für das Modelabel „Wren“ vorzustellen. Er begleitet stattdessen fast atemlos die Damen und Herren vom ersten leise gesprochenen Wort über die verschämte Annäherung bis zum Moment der Verzauberung. Diese benötigt keine Anleitung, kein Script, kein Drehbuch. Der „First Kiss“ geht unter die Haut.

Undress Me von Tatia Pilieva:  Der Moment, in dem auch das Ausziehen unter die Haut geht

1957 baten Virginia Johnson und William Masters Männer und Frauen, sich für ein wissenschaftliches Projekt auszuziehen. Dieses Experiment nahm Tatia Pilieva im Jahr 2014 als Grundlage für ein ganz besonderes Abenteuer. Sie bat zwanzig Männer und Frauen, die sich vorher noch nie gesehen hatten, sich gegenseitig vor der Kamera zu entkleiden und anschließend für einen Moment das Bett miteinander zu teilen. Erneut ohne Skript, Anleitung oder Drehbuch.

Doch all jene, die nun skeptisch die Brauen runzeln, werden eines Besseren belehrt. Lässt man sich auf diesen wunderbaren, in edlem Schwarz-Weiß-Ambiente gedrehten Film ein, verwandelt sich das einfache Entkleiden in eine sinnliche Erfahrung. Fremde, die sich zum ersten Mal gegenüberstehen, lächeln sich schüchtern und verlegen an, versuchen die Situation zu überspielen und wissen dennoch, dass sie dem Moment nicht entfliehen können. Im Gegenteil: Sie werden im nächsten Augenblick sogar ihre Komfortzone „ohne Wenn und Aber“ verlassen müssen. Und das ist die Sekunde, in der sie sich einander hingeben. Ohne Eile finden die Finger die Knöpfe an der Bluse und ein schüchterner Blick fliegt fragend zum Gegenüber.

Das Lächeln signalisiert schließlich, dass alles in Ordnung ist. Die Akteure stehen vor einem minimalistischen, und dennoch gemütlich aussehenden Bett, das weniger die Kleidungsstücke aufnehmen soll, sondern vielmehr dazu gedacht ist, dem anderen noch ein bisschen näher zu kommen. Möglicherweise aber auch, um die ungewöhnliche Situation etwas zu entkräften und mit seinem Gegenüber unter der Decke Schutz vor den Blicken des Betrachters zu suchen.

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